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Anspruch, Erklärungsreichweite, Forschungsperspektive
Klaus Hurrelmann ist Professor für Sozial- und Gesundheitswissenschaften. 1995 hat er das „Modell der produktiven Realitätsverarbeitung“ verfasst.
Hurrelmann stellt an sein Modell den Anspruch, die Entwicklung der Identität umfassend erklären zu können. Dazu bedient er sich mehrerer Dimensionen, zum Beispiel der soziologischen und psychoanalytischen. In seinem Modell verbindet er also gesellschaftliche Institutionalisierungsprozesse und intrapsychische Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung.
Sein Forschungsziel ist es, den Sozialisationsprozess mit Fokus auf das Jugendalter darstellen zu können.
Sozialisation definierte er dazu als Prozess der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und dinglich-materiellen Umwelt. An dieser Stelle wird bereits das kontextualistische Menschenbild deutlich: Hurrelmann sieht den Menschen immer im Kontext seiner Umwelt. Seine Forschungsperspektive ist also die Person-Umwelt-Interaktion.

Charakterisierung des Individuums: Menschenbild
Hurrelmann nimmt eine Ausdifferenzierung des Lebens vor. Er teilt das Leben in drei große Phasen ein: Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter. Das Hauptaugenmerk legt Hurrelmann auf die Lebensphase der Jugend. Dazu differenziert er sie weiter in: frühe Jugend, späte Jugend, Nach-Jugend.
Hurrelmann gründet sein Modell auf der Vorstellung, dass das Individuum im Jugendalter noch nicht über genügend Handlungsautonomie und Handlungskompetenz verfügt. Seine Persönlichkeitsstruktur ist noch unfertige und offen für Veränderungen. Die Entwicklung in dieser Zeit ist geprägt von viele Krisen, Verhandlungs- und Veränderungsprozessen ablaufen. Krisen stellen für Hurrelmann also keine Deviation oder Anormalität dar. Sie sind für eine „gesunde“ Entwicklung notwendig und sinnvoll, weil sie Motoren für Veränderungen sind.
Ansatzpunkt für die Veränderungen ist eine innere Dynamik. Hurrelmann versteht Menschen im Jugendalter als aktiv handelnde Subjekte. Durch Kommunikation und Interaktion kann sich der Jugendliche in den Prozess des Suchens und Tastens begeben. Er stellt im Jugendalter elementare Strukturen in Frage und handelt Handlungsfreiräume aus. Der Jugendliche steht konstant in direkter Auseinandersetzung mit seiner Umwelt. Hurrelmann spricht deswegen von einer produktiven Realitätsverarbeitung. Die Phase des Suchens und Tastens stellt den Zeitraum dar, in dem die Entwicklungsaufgaben bewältigt werden.
Entwicklungsaufgaben sind psychische und soziale Anforderungen, die an eine Person in einem bestimmten Lebensabschnitt gestellt werden. Sie definieren die Anpassungs- und Entwicklungsprobleme. Deswegen kann man sie als Bezugssysteme auffassen, in denen Persönlichkeitsentwicklung stattfinden kann.
Ziel der Entwicklungsaufgaben ist die Ausbildung von Identität, sie sich in vier Rollen gliedern lässt: Berufsrolle, Partner- und Familienrolle, Kultur- und Konsumentenrolle und politische Bürgerrolle. Identität entsteht, wenn Kontinuität des Selbstbildes vorliegt.

Wie oben schon genannt, betrachtet Hurrelmann das Individuum immer im Kontext mit seiner Umwelt. Um letztendlich die Synthese von Ich-Identität darstellen zu können, bedarf es vorher einer genaueren Betrachtung der Gesellschaft:

Charakterisierung der Gesellschaft
Die Gesellschaft hat –nach Hurrelmann- die Aufgabe Motivation und Kompetenz zu schaffen. Grundlage dafür ist die Annahme, dass sie Werte und Normen weitergeben. Man spricht in diesem Zusammenhang auf von Sozialisationsinstanzen und Transformatoren. Obwohl sie durch Normen dem Individuum Richtlinien gibt, schafft sie ihm auch Freiräume. Innerhalb dieser Handlungsspielräume hat das Individuum die Möglichkeit durch Kreativität sein eigenes Leben zu bestimmen. Die Gesellschaft unterliegt dadurch einer ständigen Umformung und Veränderung durch Aktivität von Personen.

Die Gesellschaft stellt durch ihren flexiblen Charakter strukturelle Ansatzpunkte für Krisen dar. Hurrelmann skizziert vier solcher strukturellen Krisen:
Ausgangspunkt für die erste Krise ist, dass die von der Gesellschaft gelassenen Handlungsfreiräume zu eng sind. In diesem Fall hat das Individuum zu wenige Möglichkeiten sich angemessen zu entfalten. Das Individuum kann seine Bedürfnisse ( Maslow) nicht befriedigen.
Die zweite Krise beschreibt das andere Extrem: die Gesellschaft lässt dem Individuum zu große Handlungsfreiheit. In diesem Fall sieht sich das Individuum in einer Umwelt ohne Orientierung. Es kann von Außen keine Verhaltenssicherheit bekommen.
In beiden Fällen (1 und 2) wäre das System nicht gesichert. Das Individuum ist in seiner Identitätsentwicklung negativ beeinflusst.
Die dritte Krise beschäftigt sich mit dem Fall, der im 21.Jahrhundert vermehrt vorliegt: traditionelle Vorgaben an Rollenverhalten und Wertorientierung fallen weg. Hurrelmann sieht in dieser Situation sowohl Positives als auch Negatives. Einerseits stellt diese Situation höhere Anspruche an die Selbststeuerung des Individuums. Es muss durch eigenaktives und reflektiertes Verhalten die Defizite ausgleichen. Andererseits sieht Hurrelmann in dieser Situation die Möglichkeit zu einem differenzierten Aufbau der personalen Identität.
Die vierte Krise skizziert den Fall, dass die Erwartungen, die an ein Individuum gestellt sind, widersprüchlich, diffus und zu komplex sind (Intra-Rollenkonflikt nach Parsons). Um mit dieser Situation angemessen umgehen zu können, braucht der Jugendliche sowohl eigene Bewältigungsstrategien (personale Ressourcen) als auch Hilfestellungen aus seiner sozialen Umwelt (Außenstützen: soziale Ressourcen). Im Idealfall stützen sich die personalen und sozialen Ressourcen gegenseitig, sodass ein Unterstützungsnetzwerk entsteht. Beide Faktoren sollen sowohl Orientierung durch flexible Haltepunkte mit fester Kernstruktur bieten. Gleichzeitig müssen sie aber auch Handlungsfreiräume lassen. Nach dem Try-and-Error-Prinzip kann so der Jugendliche verschiedene Lösungswege austesten.

Die Orientierung zur Anpassung auf der einen Seite und die Handlungsfreiräume zur individuellen Entwicklung spiegeln zwei wichtige Entwicklungsprozesse im Jugendalter wieder:

Identitätsbegriff (nach Goffmann)
Die Gesellschaft fordert zwei Dimensionen der Persönlichkeitsentwicklung von einem Menschen im Jugendalter. Auf der einen Seite fordert die Gesellschaft, dass sich der Jugendliche möglichst intensiv in die Gesellschaft integriert. Er soll eine soziale Identität aufbauen.
Gleichzeitig fordert die Gesellschaft auch, dass der Jugendliche sich deutlich als einzigartiges Individuum zeigt. Er soll eine individuelle Persönlichkeitsstruktur und damit eine personale Identität aufbauen.
Die beiden Erwartungsdimensionen stehen im klaren Gegensatz zu einander. Diese Diskrepanz ist die zentrale Krise im Jugendalter. Sie birgt sowohl ein positives Stimulierungspotential, als auch ein hohes Belastungspotential.
Im Sozialisationsprozess muss der Jugendlich eine Synthese dieser Erwartungsdimensionen erreichen. Ergebnis dieses Prozesses ist die Ich-Identität. Die Ich-Identität ist ein Zustand des Selbsterlebens. Sie ist nicht etwas Feststehendes, sondern unterliegt stetig neuen Interpretationen, Aushandlungen und Koordinationen zwischen den Erwartungen der Umwelt und den eigenen Bedürfnissen. Mit einer gelungenen Ich-Identität ist der Jugendliche in der Lage flexibel, situationsangemessen und autonom handeln zu können.
In Bezug auf das Jugendalter kann der Sozialisationsprozeß krisenhafte Formen annehmen, wenn es dem Jugendlichen nicht gelingt, die Anforderungen von der Integration und die der Individuation aufeinander zu beziehen und miteinander zu verbinden. Das Spannungsverhältnis von Integration und Individuation entscheidet über die Belastbarkeit der Persönlichkeit.

Letzte Änderung: Sa 03.05.2008 um 20:43 von kleine_Frau
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